Zu Besuch in Ayer
Zu Besuch in Ayer
mit Adrienne Melly
Eine besondere Adresse: Das Chalet Madeleine
Das Chalet Madeleine ist ein altes Häuschen mitten im Herzen von Ayer. Teils aus Stein, teils aus Holz, fügt es sich idyllisch ins Ortsbild ein und ist mehr als einen Besuch wert. Hier öffnet sich die Tür zu einer eindrucksvollen Reise in die Vergangenheit, denn das 1579 erbaute Haus konnte bis heute in seinem Originalzustand erhalten bleiben. Gerade mal aus zwei Räumen besteht das Gebäude: eine Küche und ein Schlafzimmer, verbunden durch den obligaten Specksteinofen. Sogar Mobiliar und Einrichtungsgegenstände stammen grösstenteils noch aus der damaligen Zeit.
« Es ist ein echter Zeitzeuge im Massstab 1:1 der Häuser von damals, in denen es weder Strom noch fliessendes Wasser gab », erklärt Adrienne Melly.
Das Chalet trägt den Namen seiner letzten Bewohnerin Madeleine Viaccoz, die hier bis 1969 lebte und im Alter von 84 Jahren verstarb. « Obwohl Trinkwasser und Kochherde in den Häusern Einzug hielten, holte Madeleine weiterhin ihr Wasser aus dem Dorfbrunnen und kochte über dem Holzfeuer», liest man in der Broschüre « Parcours historiques d’Anniviers ».
Das historische Wohnhaus gehört heute zum Kulturerbe des Verkehrsvereins Ayer, der sich um seine Erhaltung und Aufwertung kümmert. « Unsere Zeit ist geprägt von Innovation und ständigem Wandel. Das Chalet Madeleine gibt unserer flüchtigen und unbeständigen Gegenwart eine andere Dimension. Man erkennt, dass die Realität vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders aussah », erklärt unsere Begleiterin. Das altehrwürdige Haus wird am 20. und 21. Juli 2024 anlässlich des Kulturerbe-Wochenendes im Val d’Anniviers geöffnet sein. Anmeldungen für eine Besichtigung des Chalet Madeleine können über die Website www.annitrek.ch vorgenommen werden.
Eine regionale Spezialität: Der Gletscherwein
Nächster Halt auf unserer Tour ist die Weinkellerei der Burgergemeinde von Ayer. Präsident Jean-Yves Melly erwartet uns schon für die Verkostung des berühmten Tranks aus dem Val d’Anniviers: dem Gletscherwein.« Man trinkt nicht einfach einen Wein, es ist eine ganze Tradition, eine Geschichte », betont er gleich zu Beginn und reicht uns ein erstes Glas des goldenen Tropfens. « Geschmacklich erinnert er an Madeirawein oder den Vin Jaune aus dem Jura», erklärt uns Jean-Yves-Melly. Gletscherwein kann man nicht kaufen, weder im Geschäft noch im Restaurant. Man verkostet ihn in der Kellerei, direkt aus dem Fass. «Schaut euch um! Sind wir nicht an einem ganz besonderen Ort, mit den ganzen Zinnkannen, Weinfässern und Käselaiben? Jedes Mal werde ich ganz ehrfürchtig, wenn ich Gelegenheit habe, diesen Wein zu kosten », erklärt unsere Begleiterin. Üblicherweise wird der Gletscherwein nur zu Ende eines Besuchs und in kleinen Mengen ausgeschenkt.
Ein Fass Gletscherwein enthält normalerweise die Rebsorten Rèze oder Ermitage. Seine Besonderheit ist, dass die Fässer immer von Neuem bis zum Rand gefüllt werden. «Wenn man Gletscherwein ausschenkt, füllt man danach das, was gezapft wurde, mit neuem Wein auf. So vermischen sich die Jahrgänge untereinander», erklärt der Burgerpräsident. Drei Fässer Vin du Glacier lagern in der Kellerei von Ayer. Das älteste stammt aus dem Jahr 1727 und enthält 900 Liter Rèze, wobei die Basis hundert Jahre alt ist.
Der geschichtswürdige Tropfen wurde nun sogar in seiner eigenen Monographie verewigt mit dem Titel: «Vin du Glacier, à la découverte d’un grand vin», erschienen beim Verlag Editions Monographic. Die Autoren vermuten, dass «der Wein Gletscherwein genannt wurde, da dieser aus dem Tal in die Berge, also in die Nähe der Gletscher, gebracht wurde»
In Ayer kommt man selten in den Genuss eines Glases Gletscherweins, aber hin und wieder hat man Glück. So zum Beispiel am Muttertag, an dem die Burgergemeinde alle Mütter und jungen Frauen in ihren Weinkeller einlädt. Wir geniessen einen letzten Schluck, bevor wir unseren Besuch fortsetzen.
Ein besonderer Spaziergang: Der Lehrpfad Zau Zoura
Zurück an der frischen Luft geht es nun zum steilen Lehrpfad Zau Zoura oberhalb des Dorfes. Im Patois bedeutet Zau Zoura « der verfluchte Wald », Ayer hat die Schutzfunktion des Waldes, der 1990 vom Sturm Vivian stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, schon früh erkannt und entschieden, diesen zu schützen. «Die Bevölkerung erkannte damals die Bedeutung ihres Waldes und schuf daraufhin ihren ersten Lehrpfad», rerinnert sich Adrienne Melly.
Im Jahr 2017 wurde der Lehrpfad modernisiert und erstreckt sich nun über sechs Kilometer bis zum «Mayen des Moyens» auf 2000 m Höhe. «Zau Zoura erklärt das Ökosystem zwischen dem Dorf und dem Maiensäss sowie die Einbindung des Menschen in die Umwelt im Laufe der Zeit», heisst es auf der Website von Anniviers Tourisme. Von Botanik über Landwirtschaft und Geologie bis hin zu Soziologie – zahlreiche Themen werden angesprochen und von Fachleuten erklärt: «Für jeden der 16 Posten konnten wir absolute Experten auf ihrem Gebiet gewinnen: Universitätsprofessoren, Forscher, Sicherheitsspezialisten, Landwirte», erzählt uns Adrienne.
Mit seinen drei Lesestufen – grundlegend, spielerisch und fachkundig – spricht der Lehrpfad sowohl Jugendliche als auch Erwachsene an. Die Informationen in Form von Tafeln, einer Kinderbroschüre und einem QR-Code, mit dem man noch mehr erfahren kann, richten sich an alle Zielgruppen.
Nicht zuletzt ist das Mayen des Moyens auch wegen dem grandiosen Panorama einen Abstecher wert: « Hier gibt es wirklich tolle Aussichtspunkte, mit Blick ins Tal und auf die Viertausender », schliesst die Botschafterin von Ayer.
Zau Zoura ist von Mai bis November zugänglich. Weitere Auskünfte finden Sie unter www.valdanniviers.ch.
Legende: Der Tambouren- und Pfeiferverein von Ayer mit seiner Präsidentin Adrienne Melly hat dem Lehrpfad Zau Zoura sogar ein Stück gewidmet.
Ein absolutes Muss: Das Fronleichnamsfestu
Letzte Station auf unserem Ausflug ist die Kirche Sainte-Anne. Im Inneren, vor dem Chor, erzählt uns Adrienne vom Fronleichnamsfest, für sie « einer der schönsten Tage im Jahr ». In Ayer ist diese Tradition heilig, wobei die Feier nicht der Folklore, sondern der Dorfgemeinschaft wegen aufrechterhalten bleibt: « Manche kommen in der Tracht von Anniviers, andere in Militärkleidung und die Erstkommunikanten tragen ihre weissen Gewänder. Alle Dorfvereine, darunter auch der gemischte Chor, nehmen teil », erzählt Adrienne vom gelebten Kulturerbe.
Die Tambouren und Pfeifer läuten um 6 Uhr morgens die Tagwacht ein, danach folgen die traditionelle Messe und die Prozession durch die Strassen des Ortes. Nach dem religiösen Teil folgt ein Dorffest, an dem jeweils mehr als das halbe Dorf teilnimmt.
« Das Fronleichnamsfest fördert das Dorfleben, es verbindet die Einheimischen und die verschiedenen Generationen. An diesem Tag geht es nicht um alte Familiengeschichten, Politik oder den sozialen Status. Das ist es, was mir so gefällt », schwärmt Adrienne.
Fronleichnam wird jeweils am zweiten Donnerstag nach Pfingsten gefeiert, dieses Jahr fallen die Feierlichkeiten auf den 30. Mai.