Zu Besuch in Sitten

Ein Hauch von Italien

«Wärst du bereit, deine Stadt im Mitarbeitermagazin vis-à-vis näher vorzustellen?»  Die positive Antwort von Ismaël Grosjean liess nicht lange auf sich warten: «Seit November bin ich im Home Office. Es wird mir gut tun, etwas frische Luft zu schnappen und etwas anderes zu tun.»

Mit «seiner Stadt» ist Sitten gemeint. Oder vielmehr ein kleines Sitten innerhalb von Sitten. Ismaël wuchs nämlich in der Altstadt auf. Dort lebt und arbeitet er auch noch heute. Seine Wohnung befindet sich gegenüber dem Restaurant «Au Cheval-Blanc», das seinen Eltern gehört. Es ist dieses Gebäude an der Spitze des Grand-Pont, an das Ismaël seine ersten Erinnerungen knüpft. «Früher habe ich mit den Angestellten Verstecken gespielt und mit den Kindern aus der Nachbarschaft die Strassen unsicher gemacht», erzählt er mit einem Lächeln auf den Lippen. «Darüber hinaus hat dieses Gebäude eine Seele, erzählt eine echte Geschichte», fährt er fort. Von 1621 bis 1657, während der Zeit der Pest und der Hungersnot, beherbergte es das Rathaus. Danach wurde es in ein Gasthaus umgewandelt, das Reisende mit Pferdekutschen empfing. Daher der Name des heutigen Restaurants, das 1987 von Ismaëls Eltern übernommen wurde. Der Mann, der seit 13 Jahren für den Staat Wallis tätig ist, wurde nicht in Sitten geboren, sondern zog im Alter von drei Jahren dorthin. Doch dann war es Liebe auf den ersten Blick. «Ich liebe mein Viertel, die engen Gassen der Altstadt haben ein italienisches Flair, es ist, als wäre man das ganze Jahr über im Urlaub.» Ismaël ist ein hervorragender Botschafter für sein kleines Fleckchen Paradies. «Vor der Coronaviruspandemie hatte ich viel Spass daran, Freunden aus dem Ausland, die zu Besuch kamen, diesen Ort zu zeigen», sagt er mit einem Hauch von Nostalgie. «Ich liess sie die lokalen Produkte probieren und zögerte nie, irgendwo einen halben Laib Käse mitzunehmen, ob im Wallis oder in die Weiten der polnischen Landschaft», grinst er.

Wenn er nicht gerade Freunden seinen Ort schmackhaft macht, geht Ismaël seiner Arbeit nach. Sein Arbeitsplatz befindet sich ebenfalls in der Altstadt in der Nähe des Place de la Planta. «Als Kind bin ich auf Bäume geklettert, die ich heute noch von meinem Büro aus sehen kann», lacht er. In der Nachbarschaft lebt Ismaël auch seine Leidenschaft aus, nämlich Karate, das er praktiziert und unterrichtet. «Der Trainingsraum befindet sich am Place du Midi, also fahre ich mit dem Fahrrad dorthin». Ismaels Leben ist in einem Mikrokosmos verankert, der ihn belebt und glücklich macht.

Es stellt sich die Frage: Verlässt Ismaël jemals die Altstadt? «Natürlich, ich fahre gerne in den Urlaub ins Ausland zum Kitesurfen, eine weitere meiner Leidenschaften», antwortet er. Ismaël macht keinen Hehl daraus, dass er kein Walliser ist, der den Bergen verfallen ist. Er fährt manchmal dorthin, hat aber eine starke Vorliebe für das Meer und den Wassersport. Im Sommer trifft man ihn im Naherholungsgebiet «Les Iles» auf seinem Paddel an. «Ich liebe diesen Sport und habe das Glück, ihn in Sitten ausüben zu können.» Für ihn kommen diese Ausflüge einem kompletten Tapetenwechsel gleich, ohne dabei Hunderte von Kilometern fahren zu müssen. «Hier am Wasser, in der Talebene, direkt am Stadtrand, kann ich meine Batterien wieder aufladen», freut sich Ismaël. Und als er gebeten wird, für ein Foto im 6,8 Grad kalten Wasser auf sein Paddel zu steigen, zögert er keine Sekunde.

Ismaëls heiliger Gral befindet sich direkt neben dem See. Es ist das neue Alaïa Surfcenter, das gerade eröffnet wurde. Vor der Anlage, die sich noch im Bau befindet, hört man das Geräusch von künstlichen Wellen. «Es fehlen nur noch die Möwen, dann befinden wir uns am Meer», sagt er mit einem Glänzen in den Augen. Ismaël, der in Portugal und Spanien das Surfen gelernt hat, freut sich darauf, in Sitten die Wellen zu reiten. 

Es gibt noch einen letzten Ort, den Ismaël uns zeigen möchte: die Suone von Lentine. «Ich war als Jugendlicher oft dort. Manchmal habe ich den Karateunterricht geschwänzt. Dann bin ich mit meinem Walkman auf dem Kopf, der mit schulterlangen Dreadlocks geschmückt war, und Reggae oder 70er-Jahre-Rock in den Ohren, hierher gekommen», lacht er. Festzuhalten ist, dass das Panorama tatsächlich wunderschön ist. «Es ist ein Ort, der es mir erlaubt, wegzukommen, allein zu sein, nachzudenken und eine unglaubliche Aussicht auf Sitten zu geniessen.» Ismaël - ein kleiner Romantiker? «Auf jeden Fall», findet er. «Ich liebe diese Stadt wirklich.» Und während er in die Ferne blickt, auf die untergehende Sonne, gesteht er: «Man glaubt es kaum, aber in mir fliesst gar kein Walliser Blut. Mein Vater stammt aus dem Berner Jura und meine Mutter ist gebürtige Portugiesin. Und doch fühle ich mich zu 100 Prozent als Walliser. Ich fühle mich zu 100 Prozent als Sittener».

 

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