
Porträt Misaël Ecoeur: Der Ruf der Berge
Das Bishorn, sein erster Viertausender
Mehr als 20 Jahre sind vergangen, die Erinnerung an den Gipfel ist aber noch immer sehr präsent: «Bevor wir aufgebrochen sind, hatte ich grosse Bedenken. Für mich war das Hochgebirge Neuland, ein echtes Abenteuer. Ich sehe noch, wie ich am Vortag meine Ausrüstung bereit gelegt habe. Und ein paar Passagen des Aufstiegs könnte ich noch immer im Detail beschreiben.»
Diese erste Besteigung lehrte Misaël eine wichtige Lektion: «Der Aufstieg ist eine Sache. Auf keinen Fall zu unterschätzen ist aber der Rückweg. Oft sind die Abstiege lang und kräftezehrend und damit ebenso anstrengend.» Mit 26 Jahren steht Misaël also auf seinem ersten Viertausender, nichtsahnend, dass er eines Tages alle höchsten Gipfel der Alpen bezwungen haben wird.
Der Aufstieg ist eine Sache. Auf keinen Fall zu unterschätzen ist aber der Rückweg.
82 offizielle Viertausender
Die Liste der höchsten Alpengipfel ist lang. Der Dachverband UIAA (International Mountaineering and Climbing Federation) führt für die Alpen 82 offizielle Gipfel über 4000 Meter auf dieser Liste, wobei sich alle diese hohen Berge auf die Schweiz, Italien und Frankreich verteilen (www.theuiaa.org/4000-alps/).
Der «Kleinste» unter ihnen, «Les Droites», hat auf den Meter genau 4000 Meter. Angeführt wird die Liste vom Mont Blanc, mit 4808 Meter auch als Dach von Europa bekannt.

Wenn der Weg das Ziel ist
Als zweiten Viertausender bestieg Misaël die Jungfrau (4158m) in den Berner Alpen, dann zusammen mit seiner Ehefrau Katia das Breithorn (4160m) in Zermatt. Zwischen den beiden Gipfeln vergehen ganze zwei Jahre. «Das zeigt, dass es mir nie um das Abhaken von Gipfel ging», betont er. Ihm sei es in erster Linie wichtig, in guter Gesellschaft in den Bergen unterwegs zu sein. Erst nach rund 60 Gipfeln, motiviert von seinen Freunden, nimmt er den Fehdehandschuh auf. Langsam befasst sich Misaël mit dem Gedanken, wie es wäre, alle Viertausender zu besteigen.
Der Aha-Moment nach den Grandes Jorasses
2016 dann der Aha-Moment, der das Ganze ins Rollen bringt. Zusammen mit einem Bergführer aus der Region nimmt Misaël im Sommer 2016 die sieben Gipfel der Grandes Jorasses in Angriff. Ihr Plan: Die Überschreitung der Bergkette von der Aiguille de Rochefort bis zur Pointe Walker. Alles passt perfekt: das Wetter, die Form, die Seilschaft. Die ursprünglich in zwei Tagen geplante Überschreitung schaffen die beiden in nur 12 Stunden. «Da habe ich mir das erste Mal gesagt, dass es machbar ist!»

Erhard Loretan, das grosse Vorbild
Misaël kommt schon früh mit dem Bergsteigen in Kontakt. Er wächst in Troistorrents auf, die Dents du Midi stets im Blick. «Wenn wir den Sommer über auf der Alp waren, konnte ich stundenlang mit dem Fernglas die Felswände gegenüber beobachten, auf der Suche nach Bergsteigern. Meine Lieblingsbeschäftigung als Kind.» Später dann vergräbt er sich in den Büchern der «grossen Alpinisten» wie André Georges, Ueli Steck und besonders Erhard Loretan.
«Erhard ist wahrscheinlich der Alpinist, der mich am meisten inspiriert hat. In seinem Buch «Les 8000 rugissants» (auf Deutsch: Den Bergen verfallen) spricht er von der Schönheit des Himalayas, aber auch davon, wie unerbittlich sie sind.» 2009 trifft er in der Cabane d’Orny per Zufall sein Idol. «Er war als Bergführer mit einer Gruppe Sehbehinderter unterwegs. Ich war überrascht, wie einfach und bodenständig er rüberkam, obwohl er zu den besten Bergsteigern seiner Generation gehörte.»
Wenn wir den Sommer über auf der Alp waren, konnte ich stundenlang mit dem Fernglas die Felswände gegenüber beobachten, auf der Suche nach Bergsteigern. Meine Lieblingsbeschäftigung als Kind.

Die drei letzten Viertausender
80, 81, 82, geschafft! In Begleitung des Bergführers Fréd Degoulet, der 2018 mit dem Piolet d’Or ausgezeichnet wurde, geht für Misaël im Juli 2024 ein grosser Traum in Erfüllung. Innerhalb von drei Tagen überschreiten sie den gesamten Brouillardgrat und stehen dabei nacheinander auf der Punta Baretti (4013 m), dem Mont Brouillard (4069 m) und dem Picco Luigi Amedeo (4460 m).
Damit schliesst sich der Kreis in Misaëls Lieblingsgebiet: «Mein Herz schlägt für das Mont-Blanc-Massiv. Ich liebe das leicht rötliche Gestein, diesen speziellen Granit. Für mich hat die Gegend eine besondere Anziehungskraft. Sie strahlt eine unglaubliche Energie aus. Ich fühle mich mit dem Berg verbunden und werde zu einer ganz anderen Person, sobald meine Hände den Fels berühren. Etwas das ich kaum beschreiben kann.»
Ein Kombi-Spezialist
Auf sein Niveau als Bergsteiger angesprochen, muss Misaël lachen und liefert einen Vergleich zum Skisport: «Ich bin gut in der Kombination.» Auf seinem Blog schreibt sein Freund und Bergführer Fred Degoulet: «Misaël ist nicht unbedingt ein ausgezeichneter Kletterer; er meistert aber alle Passagen und das ist es, was in den Bergen zählt.» Seine Ausdauer, sein Orientierungssinn und sein Tempo machen ihn zu einem kompletten Alpinisten. Dies verdankt er zum Teil seinem Freund David, mit dem er die Ingenieurschule absolvierte und der ihm die ersten alpinen Grundlagen vermittelte. Aber auch der SAC-Sektion Martigny, die seine bergsteigerischen Kenntnisse perfektionierte. Seine praktische Erfahrung hat er sich im Laufe der Jahre bei Touren mit einer Gruppe von Bergbegeisterten in Riddes angeeignet.
Wenn er ohne Bergführer unterwegs ist, übernimmt er ohne Probleme den Lead. «Ohne es zu wollen, übernehme ich meistens die Führung; ich kann gar nicht anders, als vorne hin zu stehen.» Aber den Beruf eines Bergführers möchte er dann doch nicht ausüben: «Ein Bergführer muss auch mit schwierigen Kunden gut umgehen können.» Misaël hingegen bevorzugt die schöne und gesellige Seite der Berge.

Ein gewisses Mass an Egoismus braucht's
Misaël gibt zu, dass er in den Bergen zum Egoisten wird und sich dessen durchaus bewusst ist. Gleichzeitig weiss er aber auch, wie viel seine Familie zurücksteckt, um ihm seine Leidenschaft zu ermöglichen. Während Jahren bestimmte sein Sport die Agenda der ganzen Familie. Von Mitte Juli bis Ende August war praktisch jedes Wochenende mit Bergtouren verplant. «Meine Frau und Kinder haben meine Leidenschaft immer respektiert und mich dazu ermutigt, meine Ziele zu verfolgen. Ich weiss, dass das alles andere als selbstverständlich ist.»
Berge und Arbeit
Auch in der Berufswelt geht es für Misaël hoch hinaus. Nachdem er als Projektleiter bei der Dienststelle für Wirtschaftsentwicklung eingestiegen ist, leitet er heute als Chef die Kontaktstelle Wirtschaft bei der Dienststelle für Wirtschaft, Tourismus und Innovation.
Der Bezug zum Bergsteigen? Die Ausdauer. «Im Beruf und in den Bergen braucht es physische, mentale und psychologische Widerstandsfähigkeit.»
Eine weitere Parallele sei die Innovation, so Misaël. «Im Bergsport wird das Material ständig weiterentwickelt. Ich bin diesbezüglich etwas ein Freak und immer auf der Suche nach den neusten Technologien wie Abseilgeräte, Stirnlampen usw.»

Die Frage nach dem Dach der Welt
Ob der Himalaya nun sein nächstes Ziel sei? Misaël zögert einen Moment und gibt dann zu, dass ihn der Gedanke daran reizt. Besonders bei einem Gipfel kommt er ins Schwärmen und das schon seit geraumer Zeit. Der Ama Dablam, der auch als das Matterhorn Nepals bezeichnet wird. Der 6812 m hohe Riese war erst kürzlich wieder in aller Munde, nachdem der Youtuber Inoxtag den Berg als Zwischenziel seiner Everest-Challenge bestieg und eine Doku darüber drehte. Aber Misaël möchte lieber noch nichts Konkretes zu seinen nächsten Plänen verraten.
Eine Lektion fürs Leben
Demut. Dies die Antwort auf die Frage, was ihn die Berge gelehrt haben. «In den Bergen fühlt man sich oft ganz klein. Man muss sich auch bewusst sein, dass es oftmals etwas Glück braucht.» Gleichzeitig kann der Berg nämlich auch sehr grausam sein: «Zweimal habe ich miterlebt, wie eine Seilschaft vor unseren Augen abgestürzt ist. Diesen Moment werde ich nie vergessen.»
Auf die Frage, ob er seine Besteigung aller Viertausender denn als aussergewöhnlich einstuft, antwortet Misaël ganz bescheiden mit nein. Auch wenn wir nach unserem Gespräch mit ihm ganz anderer Meinung sind.
In den Bergen fühlt man sich oft ganz klein. Man muss sich auch bewusst sein, dass es oftmals etwas Glück braucht

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