Blick ins Staatsarchiv


Kommission mit Namen: Wenn Ortsnamen zur Verhandlungssache werden

Wer eine Landkarte aufschlägt oder sich per GPS leiten lässt, denkt selten darüber nach, wie die Ortsnamen darauf eigentlich festgelegt wurden. Wer entscheidet, ob ein Weiler offiziell „Tschingere“ oder „Zingere“ heißt? Und darf ein Dorf überhaupt mehrere Schreibweisen haben?

1964 beauftragte der Staatsrat das Kantonsarchiv mit einer anspruchsvollen Aufgabe: Die offizielle Liste der Ortsnamen sollte überprüft und mit der Schreibweise im PTT-Verzeichnis sowie auf der Landeskarte abgeglichen werden. Grundlage dafür war ein Bundesratsbeschluss über die Erhebung und Schreibweise von Lokalnamen bei Grundbuchvermessungen – ein Dokument, das schweizweit Regeln für Orts-, Gemeinde- und Stationsnamen festlegt.

Auf dieser Basis setzte die Walliser Regierung eine eigene Kommission ein, die sogenannte Nomenklaturkommission, deren Aufgabe es war, über die korrekte Schreibweise der Namen zu wachen.

 

Regeln für Namen – und viel Raum für Diskussion

Die kantonale Kommission bestand aus drei bis fünf Mitgliedern. Sie prüften, ob die vom Grundbuchgeometer erhobenen Namen korrekt wiedergegeben waren. Ziel war eine einheitliche Schreibweise – nicht nur aus verwaltungstechnischen Gründen, sondern auch im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die sich auf Karten, Urkunden oder Ortstafeln verlassen müssen.

Doch Einheitlichkeit ist leichter beschlossen als umgesetzt. Gerade im Wallis, wo Dialekte, Sprachgrenzen und jahrhundertealte Traditionen aufeinandertreffen, ist die Frage nach der „richtigen“ Schreibweise alles andere als trivial.

 

Zwei kleine Anekdoten

Zwischen den Sprachen: Wer übersetzt was?


Schon die Mehrsprachigkeit des Kantons bot Stoff für Diskussionen. Daher wurden zwei Kommissionen eingesetzt: eine für das Oberwallis, eine für das Unterwallis.

Das Eidgenössische Statistische Amt reagierte auf eine diesbezügliche Anfrage mit einem ebenso pragmatischen wie aufschlussreichen Schreiben: Zwar existiere eine Liste mit 77 gebräuchlichen Übersetzungen, doch sei diese in erster Linie als Hilfsmittel für Zivilstandsbeamte gedacht – nicht als verbindliche Sprachregel. Denn wer wollte schon, dass ein französischsprachiger Beamter „Brigue“ statt „Brig“ einträgt – oder ein deutschsprachiger „Sitten“ statt „Sion“? Sprache ist eben nicht nur ein funktionales Mittel – sie ist auch Ausdruck von Zugehörigkeit und Gefühl.

 

Zwischen Mundart und Norm: Eine Oberwalliser Episode

Ein schönes Beispiel findet sich in den Archivunterlagen zur damaligen Nomenklaturkommission der 1960er Jahre. Albert Carlen, mit der Schreibung von Lokalnamen betraut, zeigte sich skeptisch gegenüber der Idee, Ortsnamen konsequent nach Mundart zu schreiben. Denn: Selbst innerhalb des Oberwallis variieren Aussprache und Sprachgebrauch – von Tal zu Tal, ja sogar von Zeitzeuge zu Zeitzeuge.

Besonders eindrücklich bleibt Carlens Bemerkung zur Aussprache des langen, geschlossenen „e“, das im unteren Teil des Oberwallis gebräuchlich ist („Chees“, „Scheer“). Sollte man daraus ein einheitliches „ä“ machen – also „Chäs“ statt „Chees“ – um sich dem Sprachgebrauch in anderen Regionen anzupassen? Eine kleine linguistische Fussnote – aber ein sprechendes Beispiel dafür, wie viel Identität in einem einzigen Buchstaben stecken kann.

 

Sprache ist mehr als ein Werkzeug – sie ist Heimat


Namen sind mehr als blosse Koordinaten. Sie spiegeln wider, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, wie sie ihre Geschichte erzählen – und wie sie verstanden werden möchten. Die Arbeit der Nomenklaturkommission war deshalb weit mehr als eine administrative Übung. Es ging darum, zwischen Tradition und Verständlichkeit, zwischen Dialekt und Standardsprache, zwischen Eigen- und Fremdsicht einen gangbaren Weg zu finden.

Wer sich heute erneut mit diesen Fragen auseinandersetzen möchte, findet im Staatsarchiv zwei besonders aufschlussreiche Bestände:

• die Unterlagen der Kantonalen Nomenklaturkommission für das Oberwallis / Commission cantonale de nomenclature pour le Haut-Valais (CH AEV, 2300-2022/1)

• sowie die umfangreiche Sammlung „Orts- und Flurnamenbuch Oberwallis“ (CH AEV), die reiches Material zur sprachlichen Vielfalt und Namensgeschichte der Region bietet.